Viele Erste auf der Gipfelstürmertour – und am Ende gewinnt Tante Erna
7. Juni 2023 | VON IRENE BECKMANN
Mein Ziel begleitet mich entlang der Zugfahrt auf der gesamten Strecke der Semmeringbahn, die seit 1998 als erste Bahnstrecke zum UNESCO Welterbe gehört. Welterbewandern ist eine andere und erste Geschichte in der Welt von Luxusgämsen. Andere, liegt auf der Hand. Erste, weil damit die erste Kulturwandersaison überhaupt begann. Heute aber steige ich am Semmering aus und mein Weg wird mich über den Hirschenkogel und den Erzkogel auf den Sonnwendstein zur Pollereshütte führen. Heute geht es anstatt auf Ghegas Spuren auf jenen, die Viktor Silberer, Karl VI, Trude Klecker, Mikaela Shiffrin, Rudi, Magda und Tante Erna heißen. Heute ist das eine wilde Mischung, die dir am Ende ganz logisch erscheinen wird. Aber jetzt mal der Reihe nach.
Seehöhe 896,020 Meter, verrät das Originalschild aus dem 19. Jahrhundert, das an der Ecke zum ehemaligen Fahrdienstleiterbüro auf der Hausmauer des Bahnhofgebäudes hängt. Von dort weg wandere ich nun auf 1523 Meter hinauf und lege 711 Höhenmeter zurück, bis ich in der Pollerershütte einkehren und das Bergpanorama von der Steiermark über die Wiener Hausberge hinein ins Burgenland genießen werde.
am Pass Ein Rendevous mit Viktor Silberer, dem König vom Semmering, und Karl VI, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches
Bevor ich die Passhöhe auf knapp 1000 Meter Seehöhe erreiche, muss ich an der Villa Bündsdorf vorbei. Hier treffe ich Viktor Silberer, natürlich nicht wirklich, denn er weilt schon seit ca. 100 Jahren gemeinsam mit Carl Ritter von Ghega am Zentralfriedhof. Silberer war es, der den Architekten Bündsdorf beauftragte, ihm ein Schlössl hoch über dem Semmering zu errichten, von dem aus ihm die damaligen Palasthotels samt atemberaubender Landschaft zu Füßen liegen sollten. Der Bündsdorf hat das so gut hingekriegt, dass er sich mit dem Zwiebeltürmchenlook vom Silbererschlössl gleich nochmals im Ort verewigte. Mit besagter Villa samt Blick bis rüber zum Silberer seinem Anwesen.
Der Silberer wäre nicht König, wenn es nicht nochmals guten Grund für ein weiteres Rendevous gäbe. Davor gehe ich noch schnell ins Gemeindeamt. Ich könnte sagen, von Gemeinde zu Gemeinde, denn nachdem die Ära Silberer vorbei war, wurde die schmucke Villa Bündsdorf zum Gemeindeamt umfunktioniert. Heute ist es im ehemaligen Hotel zur Post untergebracht. Dort hole ich mir bei Manuela im Tourismusbüro meine Saisonkarte für den RUFbus Semmering-Rax ab, der die erste Saison im Einsatz ist. Es ist die erste Karte überhaupt, die dort vergeben wird und Erste:r sein, verbindet mich mit den Personen, die ich am Weg zu den drei Gipfeln treffen werde.
So war auch Silberer ein Erster, nämlich einer, der den Wintersport am Semmering in Gang setzte. Nachdem er Ländereien im großen Stil erwarb, was ihm den Titel „König vom Semmering“ bescherte, war es der nächste logische Schritt, ein Hotel zu errichten und den Hirschenkogel für das Wintervergnügen herzurichten. Silberers Hotel Erzherzog Johann ist einem Brand zum Opfer gefallen. Den Hirschenkogel gibt es immer noch. Und dort gehe ich jetzt hinauf. Am Fuße des Hirschenkogels habe ich noch schnell ein Date mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, dem Karl VI, vor dem Carolus Denkmal, das Johann Emanuel Fischer von Erlach designte. Das ist der berühmte Architekt, der die Karlskirche nach den Entwürfen seines Vaters, Johann Bernhard F. v. E., fertig stellte.
Das Schild auf dem Denkmal gibt Auskunft, warum der Kaiser zum Reigen der Ersten gehört und ich ihn date: „In nur 48 Tagen ließ Kaiser Karl VI 1728 eine Straße über den Semmering bauen. Am 21.6.1728 fuhren der Kaiser, seine Gemahlin und der Hofstaat nach einem sechstägigen Aufenthalt in Schottwien über den Semmering nach Triest. Die Stände Österreichs errichteten zum Dank dieses Denkmal.“ Aus war es mit dem gefährlichen Saumpfad. Auf der Semmeringstraße ging es von nun an sicherer über den Berg. Danke Karl! Und jetzt fährt man unter dem Semmering durch. Drüber trauen sich nur jene, die einen Urlaub hier am Berg in Aussicht haben, dort wohnen, legale oder teils Fragen aufwerfende Geschäfte machen oder sporteln wollen. Oder Kulturwandern. Mit Luxusgämsen. Eh klar (-;
Am Hirschenkogel sporteln mit Trude Klecker, Mikaela Shiffrin und Rudi
Bevor ich den ersten der drei Gipfel erklommen haben werde, wandere ich zunächst vorbei am Sporthotel, das auch schon 100 Jahre alt ist, Richtung Familienabfahrt am Hirschenkogel. Vorher aber biege ich ab und nehme den steilen Weg durch den Zauberwald.
Oben am Hirschenkogel treffe ich Trude Klecker und Mikaela Shiffrin. Du weißt schon, wie ich das mit dem „treffen“ meine. Beide zählen sie zu den beeindruckenden Frauen, die Schigeschichte geschrieben haben. Dass beide Erste in ihrer Disziplin, dem Schifahren hier am Berg wurden, brauche ich glaube ich nicht erwähnen. Die Trude ist eine echte Semmeringerin, die nicht nur am Hirschenkogel ihre sportlichen Gegnerinnen in den Schatten stellte. Sie gewann in Kitzbühel, in der Schweiz, nahm an olympischen Spielen teil, wurde Weltmeisterin und Sportlerin des Jahres in Österreich. Das alles in den 1950er Jahren. Mikaela feierte am Semmering ihren 80er. Im Nachtslalom heimste sie 2022 ihren 80sten Sieg ein. Mittlerweile sind es 88 geworden und sie ist eine gefeierte Schigöttin. Kein Mensch auf diesem Planeten schaffte das. 88-mal Weltcuprennen gewinnen! Respekt. Ob die Göttin der zwei Brettln in eine himmlische Gegend ziehen und Semmeringerin werden will, steht zum heutigen Tag nicht fest. Auch nicht, ob sie das plant. Und auch nicht, ob sie mit dem Gedanken spielt, nach ihrer aktiven Karriere Luxusgämse zu werden. Ich frage sie nach dem nächsten Rennen im Winter. Jetzt aber geht es für mich am Weg weiter. Richtung zweitem Gipfel, dem Erzkogel.
Bevor ich in den Wald einbiege, begegne ich Rudi. Gedanklich. Und manchmal sogar in echt. Er ist mehr als 10 Jahre jünger als die Trude, doch so wie sie vom Semmering und Mitte des vorigen Jahrhunderts Erster geworden. Mehrmals hier am Berg, in St. Moritz und anderen schönen Plätzen. Auf Naturrodelbahnen und Bobbahnen. Sogar den Großer Preis von Österreich hat er gewonnen. Und drei Töchter. Eine davon bin ich. Mittlerweile über 80 Jahre alt, hüpft er immer noch wie eine Gams auf seinen Hausbergen herum. Über 80 Jahre heilklimatische Semmeringer Höhenluft atmen hat eben Folgen. Da tut es mir ja fast leid, dass ich nicht mehr ständig am Berg wohne und mir diese Auswirkungen nicht zu Teil werden.
Auf der Almwiese im Gespräch mit Magda
Mittlerweile liegt der Hirschenkogel hinter mir. Richtung Erzkogel komme ich nur langsam vorwärts. Zuerst links und dann auf beiden Seiten, links und rechts, eröffnet sich am Panoramaweg eine Landschaftskulisse, die mich alle 10 Meter zum Stehenbleiben zwingt. Ich muss weitblicken. Sehr weit. Am Horizont schaue ich auf die steirische Bergwelt. Von hinter der Schneealm beginnend, weiter nach Niederösterreich über Rax und Schneeberg. Am Ende bis ins Burgenland zum Leithagebirge. Im Vordergrund liegt mir der Semmering, samt Teich, Hotel Panhans, Silbererschlössl und die UNESCO Welterbe Bahnstrecke zu Füßen.
So viel Panorama zwingt mich zum Innehalten. Ich setze mich auf die frühlingsgrüne Almwiese neben Himmelschlüsserl und Enzian. Nicht drauf! So viel weiß ich über die Frühlingsblüher selber. Wer sich mit Blumen da heroben wirklich gut auskennt, ist Magda. Sie ist die erste, die mich informiert, wenn der Almrausch am Erzkogel und am Sonnwendstein blüht. Magda ist auch die Erste für Rudi. Nachdem ich Blumen, vor allem den Almrausch liebe (und ich meine hier ausschließlich die BLUME!) und Magda den Rudi, kommen wir in vielerlei Hinsicht oft ins Gespräch. Auch wenn es um die Wege hier herauf geht. Schließlich könnte sie als Ortskundige die Steige auf den Sonnwendstein im Schlaf und theoretisch auch im Rausch gehen. Tut sie nicht. Sie schläft daheim und trinkt nichts Berauschendes in Mengen. Außerdem dauert es noch mit der Almrausch-Blüten-Saison und aus diesem Grund auch mit einer gemeinsamen Wanderung von Magda und mir.
Am Sonnwendstein gesellig plaudern mit den Hüttenwirtinnen
Am Erzkogel ein Schnappschuss beim Gipfelkreuz und in einer halben Stunde werde ich auf der Pollereshütte beim Hüttentisch sitzen. Wenn ich an die gschmackigen regionalen Speisen und die selbstgemachten Säfte denke, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Nicht nur am Rücken entlang. Laufen, das tun auch meine Beine, wie ich bemerke. Im Eiltempo. Flott wandere ich an der Abzweigung vorbei, an der im Winter Langlaufbegeisterte in die Loipe, die am Hochwechsel vorbeiführt, einsteigen.
Ab der Schoberhütte starte ich mit dem Endspurt. Meine Beine tragen mich mit Höchstgeschwindigkeit über die nächste Almwiese, wo bald die Kühe weiden werden, die letzten Meter hinauf auf den Sonnwendstein. Ich sprinte auf den höchsten Punkt und sauge neben der warmen und würzigen Frühlingsluft das unbeschreibliche Panorama ein, das sich nun zur Gänze vor mir ausbreitet. Im Nu sitze ich auf der Pollereshütte nach Löwenzahnsaft und Spinatstrudel mit den Wirtinnen bei einem selbstgebrauten Aroniaschnapserl. Vor uns der Schneeberg. Da bleibe ich gerne ein gutes Stunderl.
Zu gastfreundschaftlich die Wirtinnen, zu schön die Aussicht, zu fortgeschritten die Zeit, zu spät gehe ich talwärts. Zu spät, um noch die Füße im Teich zu baden, denn ein Termin ist stets fix. Die Jause bei Papa Rudi und Magda. Der ehemalige Rennrodler und Bobfahrer ist in eine andere Masterclass eingestiegen. Seine mit Passion gebackenen Obstkuchen würden sogar meine Mama, einst Konditormeisterin im Panoramahotel Wagner, vor Bewunderung blass oder rot werden lassen. Das weiß wohl niemand so genau. Auch nicht Tante Erna.
Am Teich beim Gewinnen mit Tante Erna
Korrekterweise müsste es an dieser Stelle „fast am Teich mit Tante Erna“ heißen. Da ich den letzten Programmpunkt der Gipfelstürmer:innen-Wanderung zeitlich nicht mehr schaffe. Doch die letzte Erste auf der Sieger:innenwanderung darf nicht fehlen. Das ist die grüne Seele des Semmering und Teichnixe, Tante Erna. Sie zählt doppelt zum Kreis der Ersten. Mit ihren über 80 Jahren eröffnet sie fast jedes Jahr die nicht erlaubte und auch nicht verbotene Schwimmsaison am Teich (wieder so ein Heilklimatisches-Höhenluft-Folgen-topfit-Symptom). Sie war es auch, die in jungen Jahren als erste jeden Baum zur Diskussion stellte, der gefällt oder zurechtgeschnitten werden sollte. Hätte es damals Klimakleber:innen gegeben, wer weiß, wozu sie fähig gewesen wäre. Auch heute noch getraut sich niemand ihr zu widersprechen. Sie gewinnt am Ende immer. An Tante Erna führt wohl kein Weg vorbei, wenn es um die grüne Zukunft des Semmering geht. Vielleicht triffst du sie im Tourismusbüro am Bahnhof, wenn sie dort mit Begeisterung den ankommenden Gästen die Wege „ihres“ Semmering erklärt. Mein Weg führt nach der Jause wieder zurück zum Bahnhof Semmering, wo ich auf Bahnsteig 1 vor dem Ghega Denkmal auf meinen Railjet warten werde. Den letzten heute.
Lust auf die Gipfelstürmertour und Kulturwandern mit Wohlfühlgarantie?
„Wir brauchen engagierte Mitglieder, die auch bereit sind, sich in ihrer Freizeit in das Vereinsleben einzubringen. (…) Denn auch die nächsten Generationen werden den Wintersport am Semmering leben, dank eines aktiven und gut aufgestellten Vereins ihre Akzente setzen und den WSV-Semmering in eine erfolgreiche Zukunft führen.“
Norbert Krausner und Franz Steiner in „Semmering-Aufbruch in die Zukunft“.
Wenn du mehr über den Semmering und den Wintersport lesen möchtest, dann empfehle ich dir das Buch „Semmering-Aufbruch in die Zukunft“. Herausgegeben von Josef Wagner und mir, im Böhlau Verlag.
Dort findest du auch andere Literaturtipps. Z.B. das Buch „Viktor Silberer – König des Semmering“, von Eduard Aberham, im Kral Verlag erschienen.